Lovis Corinth, Heimkehrende Bacchanten, 1898, Öl auf Leinwand, 60,5 x 90,5 cm, Von der Heydt-Museum, Wuppertal Foto: Von der Heydt-Museum, Wuppertal

Stuttgart (D)

Ekstase in Kunst, Musik & Tanz
29.9.2018 – 24.2.2019

Ekstase ist eines der ältesten und zugleich erstaunlichsten Phänomene europäischer wie außereuropäischer Kulturen. Ursprünglich im rituell-religiösen Kontext geprägt, wurde die ekstatische Grenzerfahrung begrif ich erstmals in der Antike erfasst. Seither ist sie ein fester Bestandteil westlicher Gesellschaftstheorien. Dabei veränderte und erweiterte sich die Definition und Bewertung kontinuierlich. Während die Ekstase gerade in indigenen Kulturräumen vor- nehmlich positiv konnotiert ist und im Rahmen ritueller Handlungen gelebt wird, wurde und wird sie in den von Industrialisierung, Kapitalismus und Globalisierung dominierten Gesellschaften heute oft als etwas Bedrohliches wahrgenommen. Ekstase bedeutet hier Kontrollverlust und birgt die Gefahr eines aus der Norm fallenden Individuums oder gar Kollektivs. Ausnahmen bilden Grenzerfahrungen in religiösen Kontexten oder aber profane Ekstasen, wie sie bei sportlichen Ereignissen, Konzerten oder politisch motivierten Veranstaltungen zu beobachten sind. In ihrer kulturellen Bedeutung und Vielschichtigkeit nahm die Ekstase auch Einzug in die Bildenden Künste und geht dabei außergewöhnliche Ver- bindungen mit den benachbarten Disziplinen Musik und Tanz ein.

Ab Herbst 2018 spürt das Kunstmuseum Stuttgart diesen und weiteren Beziehungen nach und widmet sich in einer großen Themenausstellung erstmals dem Phänomen der Ekstase. Anhand paradigmatischer Beispiele von der Antike bis in die Gegenwart beleuch- tet die Ausstellung die unterschiedlichen spirituellen, politischen, psychologischen, sozialen, sexuellen und ästhetischen Implikationen von Euphorie- und Rauschzuständen zwischen Askese und Exzess.

Wir sprachen mit den KuratorInnen der Ausstellung, Ulrike Groos, Anne Vieth, Markus Müller.

Aura Rosenberg, Head Shots, 1991-1995, Gelatine Silber Print, je 41,6 x 30,5 cm, Besitz der Künstlerin | Foto: Fredrik Nilsen Studio © Aura Rosenberg

In welchen Rausch, in welche Ekstase versetzen Sie sich, um diese zu erforschen, dem Gefühl ganz nah zu kommen?
Das Erforschen und die Erfahrung der Ekstase sind vermeintlich gegensätzliche Beschäftigungen. In der Forschung kommen gemeinhin wissenschaftliche Nüchternheit und Nachvollziehbarkeit zum Tragen. In den verschiedenen Formen der Ekstase, die wir in der Ausstellung vorstellen werden, geht es vor allem um deren Darstellungsmöglichkeiten in der Kunst. Aber Sie hätten mal dabei sein müssen, als wir zum Beispiel die Zusagen der sehr wichtigen Charles Le Brun-Leihgabe aus dem Louvre in Paris oder der Marlene Dumas-Gemälde aus der Tate London bekommen haben, da waren wir schon ziemlich ekstatisch. Noch wichtiger für die BesucherInnen: Wir zeigen zahlreiche relevante nationale und internationale Leihgaben und freuen uns, dass wir unser Thema so hochkarätig und sinnfällig vermitteln können.

Was erwartet die Besucher ab September 2018 in der Ausstel- lung „Ekstase“?
Ekstasen sind so alt wie die Menschheit. Wir sind fasziniert vom Zustand des „Außer-Sich-Seins“, empfinden den Verlust von Kontrolle jedoch sehr unterschiedlich. Die Ausstellung spürt dem Phänomen der Ekstase in seiner kulturellen Bedeutungsgeschichte nach und nimmt dabei einige zentrale Themenbereiche in den Blick. Kunstwerke von der Antike bis in die Gegenwart führen so verschiedene Facetten wie den dionysischen Kult, die religiöse Verzückung, den brasilianischen Candomblé oder die drogeninduzierte Ekstase vor Augen. Internationale KünstlerInnen, darunter Marina Abramovic ́, Gian Lorenzo Bernini, Louise Bourgeois, Günter Brus, Lovis Corinth, Rineke Dijkstra, Marlene Du- mas, Dan Graham, Ayrson Heráclito, Carsten Höller, Aura Rosenberg, Andy Warhol, La Monte Young und Francis- co de Zurbarán, thematisieren in ihren Werken das anthropologisch universel- le Bedürfnis nach Entgrenzung. Das wird in allen Medien vermittelt, es gibt Video, Film, Fotogra e, Zeichnung, Gra k, Malerei, Skulptur und Kultge- genstände aus den letzten 2.500 Jahren zu sehen.

erdinand Hodler, Entzücktes Weib, 1911, Öl auf Leinwand, 170 x 85,5 cm, Privatbesitz Bern, Schweiz

Können Sie einen kleinen Ausblick auf die Thematik Ekstase und die Musik geben? Wie muss man sich die Recherchen, Ihre Arbeit in Bezug auf die Musik vorstellen?
Eine zentrale künstlerische Arbeit ist Dan Grahams Video „Rock My Religion“ von 1984. Wie der Titel schon sagt, führt der Künstler hier die Entstehung der amerikanischen sogenannten Hardcore-Musik wie Minor Threat oder die frühe Patty Smith ei- nerseits mit Rock’n’Roll-Geschichten um Elvis Presley und Jerry Lee Lewis und andererseits mit der Entstehungder religiösen Quäker- und Shaker-Bewegungen im 17. Jahrhundert in England und im 18. Jahrhundert in den USA zusammen. In vielen Arbeiten in der Ausstellung geht es um den gesellschaftlichen Einfluss von Musik und deren Bedeutung für ekstatische Erlebnisse, wie zum Beispiel Techno oder Rave oder die perkussiven Rhythmen bei den Ritualen und Gottesdiensten des brasilianischen Candomblé. Das „Dream House“ (1990) von La Monte Young verwandelt den ganzen dritten Stock des Kunstmuseums Stuttgart in ein eindringliches minimalistisches Drone-Environment, das bestimmt nicht nur Sunn O)))-Freunde begeistern wird. Darüber hinaus wird ein kuratiertes Musikprogramm die BesucherInnen immer wieder für einige Sekunden und Minuten in un- mittelbar ekstatische musikalische Stimmungen verführen, denken Sie an ein Tutti aus Verdis „Requiem“, einen Einsatz von Aretha Franklin in einem Gospelchor, den Augenblick, wenn der DJ Ricardo Villalobos die Crowd auf den Punkt euphorisiert, oder das Saxophon-Solo von Paul Gonsalves im Rahmen des Auftritts des Duke Ellington Orchestra in Newport 1956, das die Zuschauer derart in ekstati- sche Begeisterung versetzte, dass der Veranstalter das Konzert abbrechen wollte. Da sind wir aber noch mitten in der Recherche und vor allem auch in den Überlegungen, wie das technisch umzusetzen ist.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE KAI GEIGER.