August Walla 2000 – 091, Kreysslerin …, 2000 © Art Brut KG

 

Outsider Art
Urlaub in der anderen Realität


„Art Brut“ fasziniert Wissenschaftler, Publikum und Sammler gleichermaßen. Die Werke von Außenseitern geben den Blick frei auf eine andere Welt, oft ist sie verwirrend oder bedrohlich. Man kann in sie eintauchen – ohne sie deswegen durchleben zu müssen.

Wer nicht weis, was der Tag mit sich bringt, der blickt auf einen Kalender. Wer hingegen nicht weiß, was die Welt mit ihm vorhat und wo er im Leben steht, der macht sich seinen eigenen Kalender – so wie Josef Heinrich Grebing. „Zeitrechnung für katholische Junglinge und Jungfrauen“ heißen sie oder „Scharfrichter- und Raubmörderkalender“. Es sind endlose Zahlenkolonnen und komplexe geometrische Figuren, vollkommen unverständlich und zugleich von bestechender Klarheit, die der 1879 geborene Grebing zu Papier brachte – aber erst in seinem zweiten Leben: Grebing, einst ein rationaler Kaufmann, war sein Leben entgleist, eine Psychose verstellte ihm den Blick aufs große Ganze, aber das Gefühl für Strukturen war noch da. Also malte er neben der Welt her, um sie nicht zu verlieren, bis ihn die Nazis 1940 ermordeten.

Art Brut verlangt dem Betrachter alles ab
Grebing wollte niemals Künstler sein, das hat er mit vielen Vertretern der „Art Brut“ gemein. Man nennt sie auch „Outsider Art“, es geht in ihr darum, dass Menschen mit einer anderen Sicht auf die Dinge eine Möglichkeit bekommen, diese auszudrucken. Der andere Blickwinkel kann eine Psychose sein oder auch eine geistige Behinderung – nicht unbedingt etwas, worunter ein Mensch leidet, aber stets etwas, das ihn prägt und im Mittelpunkt seines Werkes steht. Eigentlich ist das naive Kunst – aber mitunter so faszinierend, dass so mancher Sammler nichts anderes mehr als „Kunst“ gelten lassen will.

Den Anfang machte Hans Prinzhorn (1886- 1933). 1919 kam der junge Arzt an die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg, wo er eine Sammlung von Werken geisteskranker Menschen zusammenstellte. Prinzhorn war von seiner Arbeit derart fasziniert, dass er in nur zwei Jahren 5.000 Exponate aus der ganzen Welt zusammentrug, anschließend dokumentierte er diese noch in seinem Buch „Bildnerei der Geisteskranken“. Das hatte es vorher noch nie gegeben, dass jemand so großes Interesse zeigt an den Parallelwelten der Anstaltsinsassen, an den Briefen einer Emma Hauck, in denen sich so oft die Worte „Herzensschatzi“ und „komm“ wiederholten, bis daraus grafische Figuren wurden; oder auch an den Kalendern Josef Heinrich Grebings. Prinzhorn war nicht nur der einer der ersten, die sich der „Art Brut“ wissenschaftlich näherten – er war auch der erste Sammler.

Was Prinzhorn und so viele andere an dieser Kunst fasziniert, ist schwer zu verstehen und zugleich ganz leicht: Sie verlangt einem alles ab. So besteht die Phantasiewelt Henry Dargers (1892-1973) aus kleinen, nackten Mädchen und Männern, die den Kindern zahlreiche grausame Verbrechen antun. Frieda Stamm (1903-1977) lebte 47 Jahre lang zusammen mit einem Mann, den sie nicht liebte, das Bose in ihren Werken ist das Haus: Treppen, die in Abgrunde fuhren, einstürzende Gebäude, Zimmer voller Totenschädel prägen ihre Bilder. Selbst dort, wo das Schone und Unbeschwerte zu finden ist, verbirgt sich immer auch Verunsicherung: Else Blankenhorn (1873 bis 1920) malte sich die Anstalt einfach weg, konstruierte sich eine Welt aus schwanenförmigen Rittern oder aus selbstgemalten Geldscheinen, mit denen man Tote nach ihrer Auferstehung versorgen können sollte. „Art Brut“, das ist immer auch das Gefühl, an einer verlorenen Seele teilhaben zu können oder einem Verstand auf der Suche nach sich selbst – ohne diese abseitigen Welten selbst durchleben zu mussen. Wir sehen in dieser Kunst das, wie wir sein konnten, wenn es zum Gluck nicht schon andere waren. Aber ist dieser voyeuristische Blick auf ein Kunstwerk überhaupt erlaubt? Was unterscheidet diese Wahrnehmung von Menschen eigentlich von den sogenannten Volkerschauen Anfang des 20. Jahrhunderts, als Zoos ihren staunenden Besuchern Schwarze in Gehegen präsentierten? Es ist vielleicht die Kommunikation, fand Richard Lachman (1928-2010), der sich viele Jahre nur mit dem Stimmen in seinem Kopf auseinandersetzen konnte – bis er anfing, für das Grauen Bilder zu finden, Kopfe mit entstellten Gesichtszügen malte oder mit abstrakten Formen im Inneren anstelle eines Gehirns. So sei es ihm möglich geworden, aus dem Bild heraus etwas mitzuteilen, sagte Lachman Uber seine Arbeit. „Anstatt alle meine Gedanken auf mich selbst zu richten, begann ich wieder, Beziehungen mit anderen aufzunehmen.“ Gerade dann, wenn Dinge anderen Menschen ganz fern sind, erzeugt es manchmal Nahe, sie auszusprechen.

Sebastian Stoll Sebastian Stoll, freier Journalist. Reportagen und Portraits unter anderem für Dummy, den Tagesspiegel, die Berliner Zeitung, den Freitag, die Frankfurter Rundschau und Facts

Outsider Art in KURT arttourist.com 1/2014 als PDF

 

 

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