Elbphilharmonie Hamburg

DAS WUNDER

FÜNF Monate vor der Eröffnung hat die Elbphilharmonie in Hamburg bereits eine tolle Karriere hinter sich: Sie war ein Traum, ein Fiasko, ein Witz - nun ist sie die schöne Geliebte. Flach liegt die Barkasse im Wasser. Leicht schwankend, bisschen unsicher. Wie ein vollgelaufener Matrose, der auf der nahen Reeperbahn, wo die vollgelaufenen Matrosen seit mindestens einhundert Jahren ausgestorben sind, die La Paloma Bar sucht, aber nur den neuesten Fischfoodschnellimbiss hinter der Herbertstraße findet. Die Herbertstraße war übrigens in ihrer bizarren Blöße auch schon mal deutlich anziehender - als so ausgezogen, umgezogen und bald auch hinweggentrifiziert wie jetzt. Auf der einstündigen Hamburg-Rundfahrt „Speicherstadt & Hafen“, sie ereignete sich tatsächlich schon vor ein paar Jahren, wird jedenfalls die Kehrwiederspitze erreicht. Da sagt der Barkassenskipper: „Tja, Leute, eigentlich sollte man die Kehrwiederspitze ja allmählich umbenennen: in Kehrniewiederspitze.“

Höhöhö. Die erfahrenen Hafen-Touristen lachen. Man selbst ist halblustig drauf. So fragt man: „Wieso das denn?“ Woraufhin der Skipper im plattesten Platt und somit schon mal sehr sympathisch antwortet: „dorwegen“.

Mit dem Daumen deutet er über die Schulter, über die Reling, über die Barkasse, über den alten ziegelummauerten Kai der Speicherstadt . . . dann höher . . . höher . . . auf etwas, was aussieht wie ein leuchtendes Gebirgsmassiv mitten auf dem Wasser. Wie ein schwebender, titanischer Kristall. Ein Wunder. Als käme gerade der Fliegende Holländer vorbei. Der Skipper zeigt aber nicht auf das Wunder, sondern auf das Unerhörte. Auf das Dings. Den Skandal. Die Pleite. Das Fiasko. Die Katastrophe. Die Frechheit. Den Wahnsinn. Auf die dümmste Baustelle der Welt.

Er zeigt auf das Höhöhö-Haus, auf die Hamburger Elbphilharmonie.

Das neue Konzerthaus inmitten Europas größtem Bauprojekt, der Hafencity: eine Lachnummer, ein Trauerspiel. Was eine Krone werden sollte, ist ein Elend. Ein Grund, Hamburg für Schilda zu halten. Viele Jahre später fertig als erhofft. Hunderte Millionen Euro teurer als gedacht. Ein Bau, der vor Gericht landet. Wie blöd muss man eigentlich sein? Der Skipper ist jetzt mal so richtig in Fahrt -dorwegen.

Häuser sind immer dann am schönsten, wenn sie so aussehen, als hätten sie schon einiges hinter sich. In ein paar Monaten, am 11. Januar 2017, soll das so spektakuläre wie umstrittene, das so ersehnte wie befürchtete Konzerthaus endlich eröffnet werden. Nun aber wirklich. Es ist, als würde mit diesem Haus ein Satz wahr werden, der vom Wiener Architekten Wolf Prix und seinem Coop-Himmelb(l) au-Team stammt, wobei Prix mit der Elbphilharmonie gar nichts zu tun hat. Er mag sie aber. Was kein Wunder ist. Häuser, die sich als Anarchie, Wahnwitz und Chaos in der Gesellschaft erweisen, findet er eigentlich grundsätzlich schwer in Ordnung. Die Himmelblauen dichteten einmal: „Wir wollen Architektur, die leuchtet, die sticht, die fetzt ( . . . ) Architektur muss schluchtig sein. Lebend oder tot.“

Die höchstdekorierten Architekten der Skandalphilharmonie, Jacques Herzog und Pierre de Meuron aus Basel, sowie die Projektleiter des Baukonzerns Hochtief wollte man zur Zeit der Hafenrundfahrt gelegentlich lieber tot als lebendig sehen in Hamburg. Und die eigenen Baubehörden hätte man am liebsten auch gleich hinterher und zu den Fischen geschickt. Hamburg war echt sauer. Und im Rest Deutschlands sagte man sich: Höhöhö.

Wie titelte der Stern als Fachmagazin für extraterrestrische Absonderlichkeiten doch so schön im Jahr 2003, als man sich am Plan für ein „neues Konzerthaus der Superlative“ noch berauschen konnte: „Ufo an der Elbe“. Erst sollte das Ufo 241,3 Millionen kosten - jetzt werden 860 Millionen Euro daraus. Erst dachte man: „Wenn alles gut geht, wird das Wunderwerk im Jahr 2008 eröffnet.“ Jetzt ist es das Jahr 2017.

Es ist also nicht alles gut gegangen. Und trotzdem, wie soll man sagen, man hat ja schon das eine oder andere Haus gesehen, aber ein solches noch nie. Man möchte nicht Konzerthaus zum Konzerthaus sagen. Sondern, wäre es nicht so abgegriffen, Kathedrale. Oder, wäre das nicht noch viel abgegegriffener, Wunder, Ufo, irgendwas Unglaubliches jedenfalls. Vielleicht sogar: Backsteinmauerreste im brackigen Wasser mit oben was aus Glas, Konzertsaal und Hotel drauf. Kurz: Die Elbphilharmonie ist fantastisch. Vielleicht nicht nur trotz, sondern auch aufgrund ihrer Geschichte.

Häuser sind immer dann am schönsten, wenn sie so aussehen, als hätten sie schon einiges hinter sich und noch ein paar Rätsel in sich. Darin sind Häuser den Menschen seltsam ähnlich.

Umso schöner ist nun, dass der Hafenrundfahrtveranstalter von damals auch ausweislich der aktuellen Homepage die Kehrwiederspitze doch noch so offensichtlich ins Herz geschlossen hat: „Weitere Sehenswürdigkeiten sind die malerischen Fleete und die faszinierende Hafencity mit ihrem neuen Konzerthaus, der noch unvollendeten, berühmt berüchtigten - und dennoch bereits prächtigen - Elbphilharmonie.“

Objekt der Begierde: Die Elbphilharmonie steht schon längst auf dem Besuchsprogramm der Touristen, auch wenn sie erst im Januar 2017 eröffnet wird. Erst berühmt. Dann berüchtigt. Dann prächtig. So ist das.

Würde man dem Skipper von damals erneut begegnen, so fragte man ihn, warum Hamburg eigentlich so toll ist. So schön. So einzigartig. Vielleicht würde sein Daumen einmal mehr über die Schulter auf die Elbphilharmonie deuten - und womöglich raunzte er einen abermals platterdings so an: dorwegen.

Der Hamburger Oberbaudirektor Jörn Walter sagt jetzt: „Der Bau wird wirklich großartig im besten Sinne des Wortes. Es gibt viele Ereignisarchitekturen, aber auch immer noch wirkliche Architekturereignisse - die Elbphilharmonie ist ein solches.“

Die Geschichte, die von Hamburg und der Elbphilharmonie erzählt, ist im Grunde eine typische Liebesgeschichte. In guten Liebesgeschichten gibt es: Verliebtheit, Verlobtheit, Verheiratetheit . . . und dann, wie es sich gehört, Hass, Raserei, Verrat. Man sieht sich vor Gericht. Szenen einer Ehe. In diesem Fall: mit Happy End. Hamburg liebt nämlich seine Elbphilharmonie. Endlich. Aus dem Lustobjekt wurde ein Hassobjekt - und aus dem Hass wurde die große Liebe. Ach, schön. Das sollte auch mal unter Menschen so sein. In der Baugeschichte ist es nicht ganz so selten. Es geht stets um Misstrauen und jene Zeit, die es manchmal braucht, um etwas böses Neues (fremd, feindlich, furchtbar) als das gute Alte zu vereinnahmen (vertraut, tradiert, herrlich). So erging es dem Eiffelturm in Paris. Auch der wurde erst gehasst und danach geliebt.

Er hatte es nicht schwer, weil er so teuer wurde, sondern weil er so unfassbar hässlich werden sollte. Tatsache. Als im späten 19. Jahrhundert der 324 Meter hohe Eisenfachwerkturm errichtet wurde, veröffentlichte Le Temps einen Aufschrei der Empörung: „Wir protestieren mit aller Kraft gegen die Errichtung des unnötigen und ungeheuerlichen Eiffelturms. Wird die Stadt Paris sich den überspannten, geschäftstüchtigen Fantastereien einer Maschinenkonstruktion anschließen, um sich für immer zu schänden?“ Man beachte das Vokabular: unnötig, ungeheuerlich, überspannt . . . kennt man alles von der Elbphilharmonie. Übrigens wollten ein paar Aktionisten vor einiger Zeit den Eiffelturm für ein paar Monate begrünen. Das Ganze sollte eine Kunstaktion sein - und auf das ökologische Zeitalter hinweisen. Es gab einen Aufschrei in Paris. Was warf man der Aktion vor? Sie sei in etwa dies: unnötig, ungeheuerlich und überspannt. Dringend warnte man vor der Schändung des Wahrzeichens von Paris.

Oder die Oper von Sydney. Deren genialischer Architekt, Jørn Utzon, hatte Australien und auch seine eigene Baustelle schon längst im Zorn verlassen, als die nie zuvor gesehene Schalenkonstruktion, die der Oper ihr charakteristisches Äußeres verleiht, 1973 feierlich mit Beethovens Neunter eröffnet wurde. Im vierten Satz heißt es in der „Ode an die Freude“: „Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligthum!“ In Sydney war das Heiligtum zu diesem Zeitpunkt eher umstritten. Aufgrund der innovativen Konstruktionsweise und vor allem auch deshalb, weil schon gebaut wurde, während die Statiker noch rechneten, wurde die Oper nicht ganz kostengerecht fertig. Statt der ursprünglich geplanten dreieinhalb Millionen Pfund kostet das Projekt schließlich 50 Millionen Pfund. Statt wie geplant 1965 wurde das Haus acht Jahre später eröffnet. Auch das war eine Baustelle, wie sie unbeliebter nicht sein konnte. Seit 2007 steht die Oper von Sydney auf der Welterbeliste der Unesco.

Für die Pariser war der Bau des Eiffelturms erst mal eine Provokation. Er galt als unnötig, ungeheuerlich, überspannt. Übrigens war auch die wundersame Zeltdachlandschaft des Münchner Olympiastadions - es sollte schließlich 1800 Prozent teurer werden als geplant - nicht gerade beliebt während der Bauzeit. «Monströs» und genau: «unnötig» wurde das Vorhaben im Spiegel genannt. Als das Monster viele Jahre später dem Fußball zuliebe zum modernen „Hexenkessel“ umgebaut werden sollte, wurden die Umbaupläne als was bezeichnet? Als „monströs“ und „unnötig“. So ist die Liebe. Emotional halt.

Falsch wäre es, wollte man nun mehr Häuser fordern, die so sein müssen: Erstens müssen sie teurer werden als geplant, und zweitens später fertig. Große Architektur hat man dann auch nicht zwingend vor sich. Richtig wäre es aber, wenn man sich abseits der kostensicher und termingerecht zu sein habenden, bitte auch stadtraumverträglichen Alltagsarchitektur bei wenigen herausragenden Architektur- Mutproben darüber im Klaren wäre, dass das Bauen auf Neuland mit Risiken behaftet ist. In diesem Fall wäre es schön, wenn die Beteiligten das vorher schon mal ganz ehrlich ansprechen würden. Bei den meisten später „überzogenen“ Projekten sind die anfangs genannten Kosten und Termine so realistisch wie die Dieselwerte von VW. Wenn es eine Gesellschaft schafft, sich über Risiken zu verständigen, schultert man sie vielleicht gemeinsam. Manchmal geht auch schief, was schiefgehen kann - ohne dass das schon ein Turm in Pisa (und was für ein Wahrzeichen!) sein müsste.

Die Elbphilharmonie wird bald viel zu spät fertig? Okay, 632 Jahre waren es in Köln beim Dom, wo man die Baupläne mal für ein paar Jahrhunderte verlegt hatte. Ist dann aber doch noch was Ordentliches daraus geworden. Hamburg, sei glücklich.

AUTOR: GERHARD MATZIG.
ÜBERNOMMEN MIT GENEHMIGUNG AUS
DER SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG VOM 12.3.2016

Fotos
Elbphilharmonie © Maxim Schulz
Elbphilharmonie © Jörg Modrow
Elb Philharmonie Kleiner Saal © Herzog de Meuron
Elbphilharmonie Großer Saal © Herzog de Meuron